An das Jahr 1989 erinnere ich mich noch sehr gut. Kaum ein anderes Datum verkörpert für mich die Zeit des Umbruchs und des Wandels mehr, als diese Monate in Berlin. Kaum zwei Monate vor dem Fall der Mauer war ich erst nach – damals – West-Berlin gekommen, um mein Studium zu beginnen. Vom beschaulichen Schwarzwald in eine brodelnde Stadt ohne Sperrzeiten und mit gar so vielen Gegensätzen. Dass dazu noch der 9. November 1989 kam, war der Höhepunkt schlechthin. Was sich in der Nacht ereignete, war für alle Beteiligten unglaublich. Jetzt, wenn ich versuche, die einzelnen Geschehnisse mir ins Gedächtnis zurückzurufen, überfällt mich das ein oder andere Mal eine Gänsehaut. Noch heute!
An diesem Abend ging alles so schnell. Gerade noch im Studentenwohnheim in Lichterfelde-West, dann die Kunde, es stehen Menschen auf der Mauer, rein ins Auto – (zu siebt!) – und ab zum Brandenburger Tor. Dort standen bereits die ersten Wagemutigen oben auf der Mauer und skandierten, die Mauer muss weg. Wir natürlich ebenfalls mit Räuberleiter rauf. Es dauerte gar nicht lange, dann konnte man oben kaum noch richtig stehen, so voll wurde es. Etwas später machte sich unsere Gruppe in Richtung Invalidenstraße auf.
Dort war ein Geschiebe und Gedränge – in beide Richtungen. Freude, Gehupe, lachende, strahlende Gesichter – und ungläubige DDR-Grenzschutzbeamte, die sich am liebsten verkrochen hätten. Auf die Frage: „Wie weit dürfen wir denn hier gehen?“, gab es nur Achselzucken. Kurz entschlossen sind wir Wessis dann mal eben in Ost-Berlin eingereist. Der Straßenbahnschaffner in Ost-Berlin erklärte uns für verrückt als wir fragten: „Wo kann man hier denn noch einen drauf machen?“. Also, dann Unter den Linden wieder Richtung Brandenburger Tor – diesmal von Ostseite.
Als wir am Pariser Platz ankamen, keine Polizei, keine Beamten. Nur wartende und staunende Ost-Berliner, die brav hinter den Absperrungen standen. Wir haben gar nicht erst gezögert, rüber über die niedrigen Hindernisse und über den Platz zum Brandenburger Tor. Das Gefühl war unbeschreiblich, in dieser Nacht durchs Brandenburger Tor zu laufen. Winkende und grölende Menschen, Freude und Gelächter überall. Als die ganzen Leute übrigens sahen, dass wir durch das Tor liefen, sprangen sie zu hunderten von der Mauer, um das Gleiche zu tun. Das ist sie wieder: Gänsehaut!
Irgendwann haben dann die Vopos angefangen den Pariser Platz wieder zu räumen. Für uns hieß das, rauf auf die Mauer. Und was sich dann ereignete ist im Nachhinein betrachtet ein Wagnis sondergleichen gewesen. Die Situation spitzte sich immer mehr zu. Wir freudig skandierenden „Wir sind das Volk“ gegen den Block Vopos, die sich eingehakt vor dem Brandenburger Tor als lange Kette postiert hatten. Von Minute zu Minute steigerte sich die Aggression auf der Mauer. Dann eine Stoß in meinen Rücken. Da ich vorne am Rand stand hieß das, Sprung in die Tiefe. Sch…, dachte ich. Doch, was ich dann sah war wieder einer der unglaublichen Momente, die es so zahlreich in dieser Nacht gab. Mit mir sprangen hunderte andere ebenfalls von der Mauer. Ruhig – aber aufgeregt, ging es auf die Vopos zu. Vor der Kette ein aufgeregter Mensch, der seinen Leuten zurief: „Lasst euch nicht provozieren“. Wir durchbrachen die Vopo-Kette ohne Probleme, keine Handgreiflichkeiten, keine Festnahmen. Applaus, als wir die Absperrungen auf der anderen Seite am Pariser Platz wieder durchquerten.
Meine Kumpels und ich verbrachten dann den Rest der Nacht an der Hotelbar in einem Hotel an der Dorotheenstraße, bei sechs West-Mark das Berliner Pilsner und mit Rias2. Gegen acht Uhr ging es dann über die Friedrichstraße wieder in den Westen. Unglaublich – damals.
Es sind übrigens heute die besten Freunde, die mit mir am 09. auf 10. November 1989 auf Berliner Mauer vor dem Brandenburger Tor standen. Uns verbindet dieses Erlebnis – wahrscheinlich ewig.
Roland Fricke